Die Sonderpädagogik beschäftigt sich mit Kindern und Jugendlichen mit besonderem Bildungsbedarf und mit Behinderungen. Diese Kinder und Jugendlichen werden mit besonderen Massnahmen in ihrer Ausbildung unterstützt (ab Geburt bis zum vollendetem 20. Lebensjahr). Sie haben das Recht auf besondere Schulung und Unterstützung durch Fachpersonal der heilpädagogischen Früherziehung, Schulischen Heilpädagogik, Logopädie oder Psychomotoriktherapie. Ein besonderer Bildungsbedarf liegt bei Kindern und Jugendlichen vor, bei denen festgestellt wird, dass ihre Entwicklung eingeschränkt oder gefährdet ist oder dass sie dem Unterricht in der Regelschule ohne spezifische Unterstützung nicht folgen können. Zudem beschäftigt sich die Sonderpädagogik mit Kindern und Jugendlichen, welche nachweislich grosse Schwierigkeiten in der Sozialkompetenz sowie im Lern- oder Leistungsvermögen aufweisen. Für die Schulung von Kindern und Jugendlichen mit einem besonderen Bildungsbedarf sind die Kantone zuständig.
Für die Abklärungen, Diagnosen, Beratungen und Behandlungen bestehen in den Kantonen entsprechende Stellen (u.a. Schulpsychologische Dienste). Eine Sonderschulung erfolgt nach einem Antrag, Abklärungen und einem Zuweisungsentscheid. Anträge stellen können in erster Linie Lehrerinnen und Lehrer, Ärztinnen und Ärzte, Spezialdienste (z.B. Schulpsychologische Dienste), Schulbehörden, Vormundschaftsbehörden.
Für die Abklärungen sind in den meisten Kantonen Schulpsychologische Dienste, Kinder- und Jugendpsychologische Dienste oder andere Fachleute zuständig.
Ob ein Kind mit einem besonderen Bildungsbedarf eine Regelschule (integrative Schulung) oder eine Sonderschule besucht, wird mit dem Standardisierten Abklärungsverfahren (SAV) ermittelt. Das Verfahren dient zur systematischen Erfassung von unterschiedlichen Informationen zum Kind. Dabei sollen nicht einzelne Merkmale (z.B. eine Schädigung) eine Massnahme auslösen, sondern es wird der tatsächliche Bedarf aufgrund transparenter Entwicklungs- und Bildungszielen bestimmt. Die Abklärung erfolgt nach zwei standardisierten Prozessschritten (Basis- und Bedarfsabklärung). Diese Schritte sind wiederum in einzelne Elemente unterteilt und dienen beim Sammeln von Angaben verschiedener Informationsquellen. Das Standardisierte Abklärungsverfahren ermöglicht den Anwendern (Schulpsychologischer Dienst, Abklärungsstelle) eine umfassende, mehrdimensionale Beurteilung und bildet eine erste Grundlage für eine gezielte Förderung im dafür vorgesehen Setting.
Es kommt zur Anwendung, wenn die lokal verfügbaren sonderpädagogischen Ressourcen nicht genügen und zusätzliche Ressourcen bei der Bildung und Erziehung zur Verfügung gestellt werden müssen. Das Verfahren dient den Kantonen primär als Entscheidungsgrundlage bei der Anordnung von verstärkten sonderpädagogischen Massnahmen.
Mit der Einführung des SAV verabschiedet man sich von den bis anhin primär an Grenzwerten orientierten IV-Kriterien. Neu wird der Blick bei der Bedarfsabklärung auf die Entwicklungs- und Bildungsziele der Kinder und Jugendlichen gelenkt.
Die adäquate Schulung von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Bildungsbedarf und mit Behinderung ist in der Schweiz gesetzlich verankert. Seit 2008 ist die Sonderpädagogik alleinige Aufgabe der Kantone. Dies bedeutet, dass die fachliche, rechtliche und finanzielle Zuständigkeit der Sonderschulung bei den Kantonen liegt. Aufgrund dieser neuen Aufgabenzuteilung ist jeder Kanton dazu verpflichtet, sein sonderpädagogisches Angebot und die Massnahmen in einem Sonderpädagogikkonzept zu definieren.
In den Kantonen werden folgende Formen der besonderen Schulung angeboten:
Heilpädagogische Früherziehung
In der heilpädagogischen Früherziehung werden Kinder mit Behinderungen, mit Entwicklungsverzögerungen, -einschränkungen oder -gefährdungen behandelt. Die Unterstützungsmassnahmen können für Kinder ab Geburt bis maximal zwei Jahre nach Schuleintritt im familiären Kontext erfolgen.
Integrative Schulung
Integrative Schulung besteht in der voll- oder teilzeitlichen Integration von Kindern oder Jugendlichen mit besonderem Bildungsbedarf in eine Klasse der Regelschule durch die Nutzung der sonderpädagogischen Massnahmen, welche die Schule anbietet, und/oder durch die Anordnung von verstärkten Massnahmen anhand des Standardisierten Abklärungsverfahrens (Integrative Sonderschulung).
Sonderklassen
Sonderklassen (z.B. Kleinklassen) nehmen eine reduzierte Anzahl Lernender auf, deren Entwicklung gefährdet ist oder die dem Unterricht in der Regelschule aufgrund ihrer Schwierigkeiten (z.B. Verhaltens- oder Lernschwierigkeiten) aller Wahrscheinlichkeit nach nicht werden folgen können. Sonderklassen stellen eine Schulungsart zwischen der Regel- und der Sonderschule dar.
Sonderschule
Eine Sonderschule gehört zur obligatorischen Bildungsstufe und ist auf bestimmte Behinderungsformen oder Lern- und Verhaltensschwierigkeiten spezialisiert. Die Sonderschule nimmt ausschliesslich Kinder und Jugendliche auf, die aufgrund des Standadisierten Abklärungsverfahrens einen ausgewiesenen Anspruch auf verstärkte Massnahmen haben. Sie unterstehen einem kantonalen Bewilligungsverfahren. Sie können zusätzlich mit einem stationären Unterbringungsangebot oder mit einem Betreuungsangebot in Tagesstrukturen kombiniert sein.
Pädagogisch-therapeutische Angebote wie Logopädie und Psychomotoriktherapie
In der Logopädie werden Sprach-, Sprech-, Stimm- und Kommunikationsstörungen diagnostiziert und behandelt. Die Psychomotoriktherapie befasst sich mit der Wechselwirkung zwischen Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Bewegen und Verhalten, sowie in ihrem körperlichen Ausdruck. Bei beiden pädagogisch-therapeutischen Angeboten werden die dazu notwendigen Therapiemassnahmen geplant, durchgeführt und ausgewertet.
Die Lernziele und Anforderungen für Kinder und Jugendliche mit besonderem Bildungsbedarf sind individuell auf die Fähigkeiten der betroffenen Lernenden zugeschnitten. Sie hängen im Wesentlichen von der Art der Behinderung ab: eine sensorische oder physische Schwäche bedeutet nicht a priori auch eine Einschränkung des kognitiven Lernens. In diesem Fall stehen spezielle Lehrmittel und Hilfen zur Verfügung, um die Anforderungen und Ziele der Regelschule zu erreichen.
Im anderen Fall, in dem die Einschränkung der Entwicklung und der Lernfähigkeit eines Schülers eine Orientierung an den Lehrplänen der Regelschule nicht zulässt, zielen die festgelegten Lernziele insbesondere auf grösstmögliche Selbständigkeit und bestmögliche soziale Integration ab.
In beiden Fällen richten sich die Lernziele für jedes Kind auf die optimale Balance zwischen maximaler Entwicklung des Potenzials (auf kognitiver Ebene und allgemein) des Kindes oder des Jugendlichen bei gleichzeitiger Förderung der Selbstverwirklichung. Dieses Gleichgewicht versucht jede Schulform (Sonderschule oder Integrative Schulung) zu erreichen.
Die Lerninhalte und -ziele, selbst die Entwicklung, werden zunehmend in individuellen Entwicklungsplänen (IEP) festgeschrieben, die eine interdisziplinäre Gruppe von mit dem Kind oder Jugendlichen befassten Experten erarbeitet. Diese Vorgehensweise erfordert eine gute Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Beteiligten, die sich regelmässig treffen, um die Ziele neu zu bewerten und anzupassen.
Das bevorzugte Bewertungsverfahren in der Sonderpädagogik ist eine kontinuierliche und formative Bewertung, die ein regelmässiges Feedback für Schülerinnen, Schüler und Eltern ermöglicht. Die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen wird in einem Bericht zum Schuljahres- oder Halbjahresende protokolliert. Prüfungen oder Benotungen zum Jahresende bilden eher die Ausnahme. Diejenigen Schülerinnen und Schüler, die in Regelschulen integriert sind und dem normalen Lehrplan unterliegen, werden wie die Mitschüler bewertet. Behinderte Schülerinnen und Schüler können dabei aber einen Nachteilsausgleich einfordern (z.B. Verlängerung der Zeitdauer, um eine Prüfung zu absolvieren; Begleitung durch eine Drittperson [z.B. Gebärden-Dolmetscher an mündlichen Examen bei Hörbehinderung]; Anpassung der Prüfungsmedien oder der Form von Examen).