Autor: Reto Furter, Leiter Koordinationsbereich Obligatorische Schule, Kultur & Sport
Komplex und emotional: Reto Furter erklärt, wieso die Mehrsprachigkeit eine anspruchsvolle Aufgabe für die Schule ist.
Mit den vier Landes- und vielen anderen Sprachen verfügt die Schweiz über ein immenses Potenzial. Die Förderung der Mehrsprachigkeit liegt für die Schweiz auf der Hand – so der politische und pädagogische Konsens. Doch die Gabe der Mehrsprachigkeit ist eine anspruchsvolle Aufgabe für die Schule – komplex und emotional.
Heute existieren circa 6000 Sprachen. Laut pessimistischer Schätzung der Sprachforschung werden jedoch circa 90 % im Verlauf der nächsten hundert Jahre aussterben. Die verbreitetsten 270 Sprachen werden von mehr als 85 % der Weltbevölkerung gesprochen. Etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung sprechen zwei oder mehr Sprachen. Einsprachigkeit ist also die Ausnahme und nicht die Regel.
Das Sprachenlernen macht Schule
Vor circa 20 Jahren wurde der Fremdsprachenunterricht in der Schweiz neu konzipiert. Das Gesamtsprachenkonzept der EDK von 1998 und der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (GER) von 2001 bildeten die beiden Eckpfeiler für die Neuausrichtung. Das Sprachenlernen in einer globalisierten Gesellschaft und in einem multikulturellen Land wie der Schweiz, in dem Sprachkenntnisse eine Kernkompetenz sind, gewann zunehmend an Bedeutung. In der Schule kamen die Kinder zunehmend mit unterschiedlichen Herkunftssprachen in Berührung. Zudem zeigten neue Erkenntnisse der Sprachendidaktik, dass es sich lohnt, in der Schule früh mit dem Sprachenlernen einzusetzen, und dass das Erlernen zweier Sprachen die meisten Kinder nicht überfordert. Negative Auswirkungen auf die Schulsprache waren ebenfalls keine zu befürchten.
Hin zum Verstehen und Verständigen – auch wenn es nicht ganz einfach ist
Von nun an war das Ziel des neuen Fremdsprachenunterrichts nicht mehr die möglichst korrekte Sprachverwendung, sondern die funktionale Mehrsprachigkeit. Der Hauptakzent lag jetzt auf der kommunikativen Handlungsfähigkeit, auf dem Bewältigen von Sprachsituationen – verstehen und sich verständigen können wurde zur Leitidee. Die Bildung und Erziehung zur integrierten, funktionalen Mehrsprachigkeit galten als oberstes Ziel für die methodisch-didaktische Erneuerung des Fremdsprachenunterrichts. Es lag auf der Hand, dass die Lehr- und Lernmaterialien eine Schlüsselrolle erhielten. Somit war auch klar, dass sich die Umsetzung am Massstab der Konzepttreue (Sprachendidaktik) und der Praxistauglichkeit (Lernbereitschaft und Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler) auszurichten hatte.
Doch das Verhältnis zwischen Konzeptreue und der Praxistauglichkeit war und bleibt angespannt. Es ist ein Dilemma, das nicht aufgelöst werden kann: Die Praxis strebt nach schnellen Erfolgen und bringt gegenüber Innovationen eine geringe Frustrationstoleranz auf. Komplett anders verhält es sich mit neuen Konzepten, welche einen pädagogisch-didaktischen Paradigmenwechsel anstreben. Sie verlangen eine gehörige Portion Zeit, Geduld und Ausdauer, damit die erwartete Verbesserung tatsächlich eintritt und sich die neue Praxis langfristig etablieren kann. Auch viele Jahre aufwändig betriebene Unterrichtsentwicklung hat kein sprachdidaktisches Wunder bewirkt. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Mehrsprachigkeitsdidaktik, wie sie in modernen Lehr- und Lernmaterialien aufgenommen wurde, im herkömmlichen Rahmen des eng getakteten Sprachenunterrichts nur in Ansätzen entfalten kann. Es ist wie mit dem neuen Wein in alten Schläuchen.
Mehrsprachigkeit als Top-Chance
Wie auch immer, die Kinder sollen in der Schule Freude an einer mehrsprachigen Kommunikation gewinnen. Die Begegnung und der Umgang mit mehreren Sprachen soll eine lustvolle Erfahrung werden. Sprachliche Korrektheit und Formalismus spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Zuerst kommt der Inhalt, nachher die Form. Allen Wenns und Abers zum Trotz: Mehrsprachigkeit ist eine Top-Chance. Sie entspricht dem Lernpotenzial der Schülerinnen und Schüler, erfordert einen neuen sprachdidaktischen Umgang im Unterricht und schafft somit Perspektiven für die Schul- und Unterrichtsentwicklung, ermöglicht bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und baut Brücken in der multikulturellen und vielsprachigen Schweiz.
Auch der Schweizer Vorlesetag fördert die Sprachen
Heute, am 18. Mai 2022, findet der fünfte Schweizer Vorlesetag statt. An diesem Tag wird in der ganzen Schweiz vorgelesen: in Schulen und Kindergärten, Bibliotheken, zu Hause und an anderen Orten. Vorlesen ist ein wunderbares, gemeinschaftliches Erlebnis, das Kindern erste Begegnungen mit der Welt der Literatur ermöglicht. Der Vorlesetag ist eine Initiative des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM).